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Title
Helden oder Feiglinge?. Deserteure der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg


Author(s)
Treiber, Stefan Kurt
Series
Krieg und Konflikt
Published
Frankfurt am Main 2021: Campus Verlag
Extent
343 S.
Price
€ 43,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Marco Dräger, Pädagogische Hochschule Heidelberg

In seiner 2021 erschienenen Studie, bei der es sich um eine überarbeitete Fassung seiner an der Universität der Bundeswehr München entstandenen Dissertation handelt, setzt sich Stefan Kurt Treiber mit Deserteuren der Wehrmacht auseinander. Er untersucht 999 Fälle von Fahnenflucht aus dem Feldheer während des Feldzugs gegen die Sowjetunion von 1941 bis Ende 1944 (vgl. S. 41, S. 47–49).

Treiber schildert die prekäre Quellenlage zutreffend (vgl. S. 35–37); er führt aber ins Feld, dass seine Studie aufgrund der mehr als 120 betrachteten Gerichte repräsentativ sei (vgl. S. 312). Zugleich merkt er jedoch an, dass man nicht wisse, warum die überlieferten Akten den Krieg überstanden hätten, was seiner Ansicht nach dazu führe, dass die daraus gewonnenen Erkenntnisse „einen zusätzlichen Grad an Repräsentativität“ (S. 59) gewönnen. Überlieferungsgeschichtliche Unwissenheit als Ausweis von, ja sogar höheres Ausmaß an Repräsentativität zu verkaufen erstaunt, zumal seit Droysen die Geschichtswissenschaft die bekannte quellenkritische Problematik der Klassifizierung von Tradition und Überrest (sowie ggf. das Ausmaß von Verlusten) umtreibt.1

Der Titel „Helden oder Feiglinge?“ wirkt reichlich antiquiert und ließe sich eher im Kontext der 1980er-Jahre als in den 2020er-Jahren verorten. Damals dominierte ein derartig polarisiertes Bild der Deserteure, das sich zum einen aus ihrer auch nach 1945 fortgesetzten Stigmatisierung speiste und zum anderen aus den Idealen der Friedensbewegung. Sie suchte – abseits des antizipierten soldatischen Heldentodes im Atomkrieg – nach neuen, erinnernswerten Idealen, die eher zu ihrer pazifistischen Orientierung passten. Diese entdeckte sie in den Deserteuren des Zweiten Weltkrieges. Deren historische Verweigerung erschien ihr beispielhaft für die Gegenwart. Unter den zeitgenössischen Rahmenbedingungen deutete sie daher die Wehrmacht-Deserteure des Zweiten Weltkrieges positiv um, idealisierte sie quasi zu „Friedenstauben“ und sah in ihnen historische Vorbilder.2 Nach der Wiedervereinigung erfolgte in den 1990er-Jahren sowohl eine juristische als auch eine politische Neubewertung. Das Bild der Wehrmacht-Deserteure wurde erneut transformiert. Deserteure wurden nunmehr weder als Feiglinge, Vaterlandsverräter et cetera noch als Widerstandskämpfer und Helden wahrgenommen, sondern als Opfer nationalsozialistischer Verfolgung.

Mit der Fragestellung „Helden oder Feiglinge?“ verbaut sich Treiber aber eine solch differenzierende Perspektive zeitlichen Wandels in der Beurteilung und Bewertung der Wehrmacht-Deserteure. Konsequenterweise lautet seine Antwort auf diese Frage daher „weder noch“ (S. 317).

Innovativ und erkenntnisreich ist das von Treiber erstellte Sozialprofil der Deserteure seiner Studie: Bei ihnen handelte es sich in der Mehrheit um ledige Männer unter 25 Jahren aus unteren Mannschaftsdienstgraden, die innerhalb der ersten ein bis zwei Jahre nach ihrer Einberufung desertierten (S. 172). Im Hinblick auf die Konfession waren Katholiken überrepräsentiert (S. 167f.). Dieser Befund ist im Hinblick auf das Sozialprofil des Heeres insgesamt von Bedeutung3, daran können zukünftige Studien vergleichend anknüpfen, ihn aufgreifen und dann für andere Quellencorpora veri- bzw. falsifizieren.

Auf Basis der von ihm analysierten Quellen kommt Treiber einerseits zu dem Schluss, dass es sich bei Desertion nicht um Widerstand gehandelt habe (vgl. S. 184, S. 199, S. 314f.), andererseits widerspricht er sich selbst, wenn er angesichts des von ihm ermittelten Sozialprofils der Deserteure aber meint, dass „eine katholisch geprägte Erziehung [möglicherweise] in stärkerem Maße die Widerständigkeit gegen ein als gottlos empfundenes Regime“ (S. 313) geformt habe. Zudem blenden Aussagen wie „Wird Fahnenflucht von manchen Historikern sinngemäß als ,Widerstand des kleinen Mannes‘ gewertet, so bevorzugen andere den Begriff der ,Widerständigkeit‘, um damit auszudrücken, dass sie dieses Verhalten als Akt der Auflehnung gegen ein Unrechtsregime und einen Vernichtungskrieg ansehen. Die Perspektive, dass es sich bei Deserteuren um widerständige Soldaten handelte, dominiert bis heute.“ (S. 311) und „Nur bei einem Prozent der Deserteure kann man auf Grund der vorliegenden Informationen zur Person, zur Vorgeschichte oder zu den Fluchtumständen auf explizit widerständiges Verhalten schließen. Die These vom ,Widerstand von unten‘ kann daher nicht bestätigt werden.“ (S. 314) die seit den 1990er-Jahren differenzierte Erforschung der Motive der Deserteure völlig aus. So bleibt dann der Forschungsstand vor allem zur Motivforschung sehr holzschnittartig. Treibers Kritik an der älteren – eher „aktivistisch“ ausgerichteten – Forschung der 1980er-Jahre ist allerdings berechtigt.4

Die Forderung nach einer tiefergehenden Reflexion der analysierten Quellengattung hat bereits ein anderer Rezensent erhoben5; diese Kritik soll hier lediglich um zwei Aspekte ergänzt werden: Erstens bleiben Treibers Ausführungen zu Fluchtgründen (S. 174−191) größtenteils spekulativ (zum Beispiel S. 176: „vermutlich“, S. 178: „Kameraden äußerten den Verdacht, dass …“, S. 184: „Disziplinarstrafen […] könnten als Ausdruck seines politischen Widerstandes gewertet werden“, S. 185: „Fahnenfluchtfälle, bei denen Indizien vorhanden sind, dass eine Frau der Auslöser gewesen sein könnte“), weil seine Quellen darüber wenig bis keine Auskunft geben. Gleichwohl scheint Angst vor Strafe wegen anderer Vergehen bzw. Verbrechen ein Hauptgrund für Fahnenflucht gewesen zu sein (S. 315). Die Wehrmachtjustiz schuf sich somit aufgrund ihrer drakonischen Strafpraxis und des ihr vorauseilenden Rufs einen Großteil ihrer Opfer selbst.

Zweitens lässt sich auch im Hinblick auf die Quantität noch ein quellenkritischer Aspekt ergänzen. Das Quellencorpus ist zwar umfangreich, aber lediglich zu 139 Fällen liegen Urteile vor; bei den übrigen 860 fällen erging kein Urteil, weil die Fahnenflucht „erfolgreich“ war und die Wehrmachtjustiz des Delinquenten nicht mehr habhaft werden konnte. Daraus den Schluss zu ziehen, dass es sich bei der Wehrmachtjustiz in Gänze nicht um eine Willkür- oder „Blutjustiz“ gehandelt habe (S. 250), erscheint nicht nachvollziehbar, wenn über 86 Prozent der Fälle nicht mit einem Urteil abgeschlossen werden konnten. Das Dunkelfeld ist einfach zu groß; man kann lediglich darüber spekulieren, wie „milde“ oder „hart“ die Urteile gewesen wären. Diese Einschränkung hätte der Verfasser unbedingt selbst erkennen und seiner Leserschaft mitteilen müssen, relativiert sie die von ihm getroffenen Aussagen doch ganz erheblich.

Immerhin endeten circa 80 Prozent der von Treiber untersuchten und mit Urteil abgeschlossenen Fahnenfluchtfälle mit der Todesstrafe (S. 265), die Vollstreckungsquote lag bei circa 50 Prozent (S. 273). Daneben wäre noch zu diskutieren, inwiefern „Begnadigungen“ – also die Umwandlung von Todesstrafen in zeitige Zuchthaus- oder Gefängnisstrafen, meist mit „Bewährung“ in Feldstrafgefangeneneinheiten oder Bataillonen „zur besonderen Verwendung“ – nicht eine andere Art von Todesurteil in langsamerer Form darstellten und welche Auswirkungen diese Sichtweise auf die Vollstreckungsquote hat.

Bei seinen eigenen Hochrechnungen kommt Treiber auf die Zahl von 26.479 Verurteilungen wegen Desertion (S. 121) und 17.355 Vollstreckungen (S. 276) bis zum Jahresende 1944. Dabei verwundert es allerdings, dass trotz berechtigter Kritik an der älteren Forschung und deren damals wohl zu hoch veranschlagten Zahlen6 Manfred Messerschmidts letztes opus magnum zur Wehrmachtjustiz nicht als Vergleichsgrundlage herangezogen wird. Darin kommt Messerschmidt bis Kriegsende zu dem Ergebnis, dass „niedrig angesetzt 25.000 Todesurteile“ gefällt worden seien, von denen zwischen 18.000 und 22.000 vollstreckt worden seien, davon ca. 15.000 an Deserteuren.7 Insofern scheint sich in der Forschung zur Wehrmachtjustiz im Hinblick auf die Zahlen allmählich eine Annäherung oder vielleicht sogar ein Konsens anzubahnen.

Anmerkungen:
1 Johann Gustav Droysen, Grundriss der Historik, 2., durchgesehene Aufl., Leipzig 1875, S. 14 (1. Aufl. 1868).
2 Treibers Hinweis auf den Ursprung der Deserteur-Debatte in der Friedensbewegung (S. 14) ist zutreffend, jedoch keineswegs neu. Übrigens wurde bereits in den 1980er-Jahren vor einer Idealisierung der Deserteure gewarnt; vgl. Marco Dräger, Deserteur-Denkmäler in der Geschichtskultur der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main 2017, S. 121–169.
3 Vgl. Christoph Rass, Das Sozialprofil von Kampfverbänden des deutschen Heeres 1939 bis 1945, in: Jörg Echternkamp (Hrsg.), Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 9,1, München 2004, S. 641–741.
4 Vgl. hierzu Dräger, Deserteur-Denkmäler, S. 497–517.
5 Benjamin Ziemann, Rezension zu Stefan Kurt Treiber: Helden oder Feiglinge? Deserteure der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, in: Einsicht. Bulletin des Fritz Bauer Instituts 14 (2022), S. 121. Mustergültig ist die Reflexion über den Quellenwert nationalsozialistischer Militärgerichtsakten bei Maria Fritsche, Die Analyse der Beweggründe. Zur Problematik der Motivforschung bei Verfolgten der NS-Militärgerichtsbarkeit, in: Walter Manoschek (Hrsg.), Opfer der NS-Militärjustiz. Urteilspraxis – Strafvollzug – Entschädigungspolitik in Österreich, Wien 2003, S. 104−112.
6 Manfred Messerschmidt / Fritz Wüllner, Die Wehrmachtjustiz im Dienste des Nationalsozialismus. Zerstörung einer Legende, Baden-Baden 1987, und Fritz Wüllner, Die NS-Militärjustiz und das Elend der Geschichtsschreibung. Ein grundlegender Forschungsbericht, Baden-Baden 1991.
7 Manfred Messerschmidt, Die Wehrmachtjustiz 1933–1945, 2. Aufl., Paderborn 2008 (1. Aufl. 2005), S. 452f.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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